Hell- & Dunkelfeld Menschenhandel
Menschenhandel kann innerhalb von Landesgrenzen stattfinden, aber auch überregional. Das Projekt ACTIVATE befasst sich insbesondere mit Betroffenen von Menschenhandel aus sogenannten Drittstaaten, also aus Nicht-EU-Ländern.
Globale Ungleichheiten sorgen dafür, dass Opfer angeworben werden können. So können fehlende Schulbildung, Armut, Korruption, etc. zu einem allgemeinen Gefühl der Perspektivlosigkeit führen. Aufgrund aufenthaltsrechtlicher Unsicherheit und Unwissenheit über die Gegebenheiten in den Ländern der Ausbeutung sind sehr häufig Migrant*innen von Menschenhandel betroffen.
Weltweit wurden 105.787 Opfer von Menschenhandel festgestellt (Stand 2019).
In der EU wurden 14.154 Opfer von Menschenhandel registriert.
In Deutschland sind zum Ende 2019 427 Opfer erfasst worden. Dies bildet lediglich das sogenannte Hellfeld ab, d. h. es handelt sich um bekannt gewordene Delikte. Dies spiegelt nicht unbedingt die Realität wider, da es im Bereich Menschenhandel auch ein großes Dunkelfeld gibt. Beispielsweise werden von SOLWODI Fachberatungsstellen viel mehr Opfer registriert als in den Kriminalstatistiken auftauchen (s. Zahlen SOLWODI Jahresberichte). Häufig erleben Mitarbeiter*innen in diesen Fachberatungsstellen, dass Verfahren gegen Menschenhändler*innen eingestellt werden oder Ermittlungen nur schleppend verlaufen, weil sich die Täter*innengruppen im Ausland befinden. Daher tauchen diese Fälle nicht in den Kriminalstatistiken auf.
Welche Faktoren dazu führen können, warum Menschenhandel im Dunkelfeld bleibt, soll hier beschrieben werden.
Menschenhandel findet meist im Verborgenen statt und wird im Normalfall durch Kontrollen aufgedeckt, d.h. es handelt sich um ein sogenanntes Kontrolldelikt. Ein Kontrolldelikt ist ein Delikt, “[dessen] Begehung erst auffällt, wenn die Strafverfolgungsbehörden entsprechende Nachforschungen anstellen. Bei Kontrolldelikten gibt es kein Opfer, das von sich aus Strafanzeige erstattet.”
Wenige Kontrollen führen also zu geringen Fallzahlen. Geringe Fallzahlen erwecken den Anschein, dass das Problem nicht so groß ist und folglich könnte man Kontroll- und Schutzmaßnahmen reduzieren, weil sie vermeintlich nicht nötig wären (Uhl, 2020: 3). Gerade hier ist aber auf die verschiedenen Faktoren zu achten, warum und wann der Delikt Menschenhandel ins Hellfeld übergeht.
Zudem müssen die Betroffenen von Menschenhandel erst einmal als Opfer von den Behörden identifiziert werden. In manchen Handbüchern zur Identifizierung von Opfern wird teilweise von einem gewissen Opfer-Verhalten ausgegangen. Dazu braucht es aber beim Opfer ein Bewusstsein und Kenntnis, dass man Opfer einer Straftat ist und dass das Erlebte eben strafrelevant ist.
Im Palermo-Protokoll finden sich keine Maßnahmen zur Identifizierung von Opfer von Menschenhandel. Häufig wird angenommen, dass Opfer von Menschenhandel von alleine Zugang zum Hilfesystem suchen und nicht darauf angewiesen sind, dass Behörden sie als Opfer von Menschenhandel identifizieren (ebd.: 7- 8).
Es gibt also eine große Diskrepanz zwischen den geschätzten und den tatsächlich erhobenen Fallzahlen (s. Schaubild 1).
Fälle, die im Verborgenen, also im Dunkelfeld, bleiben sind beispielsweise:
a) die Summe jener Delikte, die den Strafverfolgungsorganen nicht bekannt werden und deshalb in der Kriminalstatistik auch gar nicht erscheinen (unbekannte Straftaten)
b) die Summe jener Delikte, die den Strafverfolgungsbehörden zwar bekannt werden, bei denen aber der Täter unbekannt bleibt (unbekannte Täter*innen)
c) die Summe jener Delikte, die den Strafverfolgungsbehörden zwar bekannt werden, bei denen jedoch der vermutliche Täter nicht abgeurteilt werden kann (nicht abgeurteilte Täter*innen)
d) die Summe jener Delikte, die den Strafverfolgungsbehörden zwar bekannt werden, bei denen jedoch der (vermutliche) Täter nicht verurteilt werden konnte (nicht verurteilte Täter*innen)
e) die Zahl aller tatsächlich begangenen, aber nicht abgeurteilten Straftaten
f) die Zahl aller tatsächlich begangenen, aber nicht geahndeten Straftaten
Die Dunkelziffer von Betroffenen von Menschenhandel ist gerade im Asylkontext sehr hoch, da dort mehrere Faktoren zusammenwirken, die eine Strafverfolgung erschweren:
Das Thema der Glaubwürdigkeit ist hier sehr wichtig. Häufig müssen schwer traumatisierte Frauen ihr Leid widerspruchsfrei vortragen können. Der hohen Anforderung an einen glaubhaften Sachvortrag können viele Frauen aufgrund bestehender Erkrankungen nicht gerecht werden. Es kommt hinzu, dass sich Opfer meist unter Asylbewerberleistungsbezug während des Asylverfahrens befinden. Hierbei gibt es nur einen eingeschränkten Zugang zum Gesundheitssystem und Traumata können nur selten mit professioneller Hilfe aufgearbeitet werden. Wichtige Gutachten über den Gesundheitszustand können nicht ins Verfahren eingebracht werden (Elle, 2021: 25). Somit wird der Vortrag als nicht-glaubwürdig eingestuft. Häufig können traumatisierte Opfer nicht mehr den Anforderungen eines schlüssigen Sachvortrages nachkommen, weil sie aufgrund innerpsychischer Prozesse Probleme mit dem Erinnern haben, notwendige Fakten durcheinander geworfen oder verdrängt werden. Dies führt leider oft dazu, dass gerade sehr belastete Betroffene als nicht glaubwürdig eingestuft werden.
Im Kontext Asyl wirkt sich vor allem auch die restriktive Anerkennungspraxis negativ auf die Aussagebereitschaft und somit die Identifizierung von Opfern aus (Kübelbeck, 2019: 1; Elle, 2021: 27f.). Häufig verhindern Abschiebungen in andere EU-Mitgliedstaaten Aussagen vor Strafverfolgungsbehörden und führen zu einer Reviktimisierung, also zu dem Umstand, dass bereits Betroffene erneut Opfer von Menschenhandel werden (Kübelbeck, 2019: 6, 8).
Der aufenthaltsrechtliche Status wirkt sich enorm auf das Verhalten der Opfer und deren Aussagebereitschaft aus. Aus Angst vor Abschiebung – und damit einhergehend vor der Polizei – trauen sich viele Opfer nicht, auszusagen. Eine qualitative Opferbefragung des Bundeskriminalamtes (BKA) zeigte, dass die Bereitschaft zu einer Aussage steigt, wenn Frauen ein Aufenthaltsrecht erhalten.
Auch aus Unsicherheit und Angst vor Abschiebung und somit der Zuführungen zu den Täter*innen sagen wenige Frauen im Asyl-Kontext aus. Auch die große Scham (gerade bei sexueller Ausbeutung) senkt die Aussagebereitschaft vieler Opfer.
Hellfeld-Statistiken zu den verschiedenen Formen von Menschenhandel
In der EU wurden 14.145 Opfer von Menschenhandel registriert.
Wir möchten Ihnen hier Hellfeld-Statistiken zu den verschiedenen Formen von Menschenhandel aufführen.
Sexuelle Ausbeutung
Die sexuelle Ausbeutung macht mit 50% festgestellter Straftaten weltweit die größte Ausbeutungsform aus. Betroffen sind hier meist Frauen und Mädchen. Aber auch minderjährige Jungen sind oftmals Opfer.
In der EU sind 60 % aller registrierten Opfer von Menschenhandel betroffen von sexueller Ausbeutung.
287 Ermittlungen zum Ende 2019 sind in Deutschland registriert. In Nordrhein Westfalen 88 Verfahren in Bayern 36.
Zwangsarbeit/Arbeitsausbeutung
Laut ILO (Internationale Arbeitsorganisation) waren 2017 24,9 Millionen Menschen Opfer von Zwangsarbeit. 15 % der in der EU registrierten Opfer waren von dieser Form des Menschenhandels betroffen. In Deutschland gab es zum Ende 2019 14 Ermittlungsverfahren aufgrund dieser Form des Menschenhandels.
Organisierte Bettelei
Weltweit sind 1,5 % aller registrierten Opfer von dieser Form betroffen, in der EU fast 2 %.
Zum Ende 2018 gab es 2 Verfahren in Deutschland aufgrund von organisierter Bettelei. 2019 gab es laut BKA keine Verfahren gegen organisierte Bettelei.
Zwang zu kriminellen Handlungen
Diese Form des Menschenhandels betrifft derzeit 6 % der Opfer weltweit.
In der EU sind 11% der registrierten Opfer davon betroffen.
In Deutschland gab es zum Ende 2018 7 Verfahren; 2019 gab es 11 Verfahren.
Heiratshandel
Diese Form des Menschenhandels betrifft derzeit 1 % der registrierten Opfer weltweit und wird in Studien und Statistiken meist nicht gesondert aufgeführt. In den meisten Fällen sind Frauen und Mädchen davon betroffen. Auch in Deutschland werden hierzu keine gesonderten Daten erhoben.
Sklaverei/ Leibeigenschaft/ Schuldknechtschaft
2016 schätzte die ILO die Zahl der Opfer von Formen der Zwangsarbeit auf 25 Millionen weltweit. Die Hälfte davon ist speziell von Schuldknechtschaft betroffen.
In der EU sind 5 % der registrierten Menschenhandelsopfer von der Ausbeutung als Hausangestellte betroffen.
In Deutschland ist diese Form des Menschenhandels 2019 dem BKA nicht gemeldet worden und wird daher im Bundeslagebericht zu Menschenhandel und Ausbeutung nicht aufgeführt.
Dunkelfeldstatistiken bzw. -studien
Es gibt diverse Studien, die sich mit dem Dunkelfeld von Menschenhandel beschäftigen. Beispielsweise beschreibt eine im Auftrag des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) publizierte Arbeit ein System zur Schätzung der realen Opferzahlen durch Menschenhandel auf internationaler Ebene. Auch auf europäischer Ebene versuchte man sich an einer Schätzung der Dunkelziffer bei Ausbeutung durch Sklaverei und Menschenhandel.
In Deutschland wurde 2017 ein zweijähriges Forschungsprojekt vom BKA und SOLWODI Deutschland e.V. durchgeführt. Ziel des Projektes war es, die Ausbeutung Minderjähriger in Deutschland, Rumänien und Bulgarien durch verschiedene Formen von Menschenhandel zu untersuchen und dabei auch das Dunkelfeld zu berücksichtigen. Auch in den Jahresberichten von SOLWODI Deutschland e.V. wird jedes Jahr veröffentlicht, wie viele Frauen sich an die verschiedenen Einrichtungen gewandt haben, weil sie Opfer von Menschenhandel wurden. Auch der Bericht zum COVID-19-Projekt von SOLWODI Deutschland e.V. geht auf die Dunkelzifferstatistik im Bereich Menschenhandel ein.